Mittwoch, 22. März 2017

Erwachsenwerden − Julia Engelmann

Heute stelle ich euch meinen letzten Text vorstellen, nämlich ein Poetry-Slam von der deutschen Julia Engelmann. Die junge Schauspielerin und Poerty-Slamerin hat diesen Text geschrieben, da sie zu jenem Zeitpunkt ein Jahr nicht mehr zur Schule ging. In diesem Text geht es um den Abschied von der Kindheit, zur Ernsthaftigkeit des Leben, das Erwachsenwerden. Sie will sich nicht von der Kindheit verabschieden, da früher alles einfacher war, wie sie schreibt. 
Ganz zufällig bin ich über ihr Buch gestolpert und habe diesen amüsanten Text gefunden, der mir beim durchlesen immer mehr gefallen hat. Die verschiedenen Aufzählungen und Vergleiche haben mich sehr zum Lachen gebracht und manchmal auch zum Denken angeregt.
   
Erwachsenwerden − Julia Engelmann (2014)

Ihr fragt mich, was ich werden will,
  ihr sagt mir, es wird jetzt langsam Zeit.
Aber ich weiss doch nicht mal, wer ich bin!
Ich fühle mich noch nicht bereit!

Und Kinder, wie die Zeit vergeht,
  eben war ich noch so klein.
Ich will noch nicht erwachsen werden,
  ich war grad gewohnt, ein Kind zu sein.

Und ich will nicht an morgen denken,
ich versuch mich abzulenken
  und schwelge in Erinnerungen...

Und plötzlich gehöre ich zu den Leuten,
  die Schülern sagen,
sie sollen ihre Schulzeit bloss geniessen,
und mir wird klar, wie schön und sorglos 
  meine Kindheit war:
erstes Wort, Kinderhort,
  Zahnlücken, Blumen pflücken,
Kindergarten, Klassenfahrten,
  Carrerabahn, in Urlaub fahrn,
Rucksack tragen, Mama fragen,
  Flaschendrehen, ins Kino gehen.

Da war das schlimmste Wort der Welt noch "doof",
  wer will denn da erwachsen werden?
Kindsein ist ein Ponyhof!

Und ich will nicht an morgen denken.
Ich versuch mich abzulenken
  und rede mir ein:

dass das Erwachsenennleben irgendwann
  furchtbar anstrengend und fürchterlich überfordernd ist
und dass ich sowieso nie wieder Freizeit haben werde,
  wenn ich erst mal irgendwo immatrikuliert bin!

Dann greift das nämlich alles
  wie grosse ölige Zahnräder ineinander:
erst studieren, promovieren,
  Geld verdienen, sich verlieben,
Haus fliesen, Wagen leasen,
  Baum pflanzen, fortpflanzen,
Schulranzen und Finanzen,
  Burnoutprävention und Benimmkonvention,
Tupperware, Wechseljahre,
  Tinnitus und Hexenschuss.
Und eh du dichs versiehst,
  sind die fetten Jahre schon vorbei!
Aber ich will noch nicht erwachsen werden!
Ich war grad gewohnt, ein Kind zu sein!

Wie soll ich grosse Entscheidungen treffen,
  wenn mir schon Shampoo kaufen zu viel wird?
Wie soll ich für mein Leben verantwortlich sein,
  wenn bei mir jede Topfpflanze nach drei Tagen stirbt?

Und ich will nicht an morgen denken.
Ich versuch mich abzulenken,
  und man sagt ja:

"Die Jugend ist die schönste Zeit!
Da kann man jung sein, da darf man noch jung sein."

Und wenn ich mir überlege, was die Kids heutzutage 
  alles so machen,
dann ist meine To-do-Liste noch viel zu lang:
dieses sogenannte...
...Chillen, relaxen und Messages texten,
  Filme laden, Google fragen,
facebooken, vintage looken,
  youtuben, abgrooven,
sich langweilen, gangnamstylen,
  dubsteppen, anecken,
Shisha rauchen, Wodka saufen,
  drei Tage wach und Führerschein.
Ich will noch nicht erwachsen werden!
Ich noch auskosten, ein Kind zu sein!

Ich verliere mich, um mich zu finden.
Ich will nicht reden und wenig denken.
Ich lass mich los, um mich festzuhalten,
  und gehe weg von mir, um mich abzulenken.

Ich spiele Gitarre oder steh in einem Club,
  aber meine Gedanken übertönt das noch nicht.
Ich wünschte, sie würden mal vor mir einschlafen,
  dann hätte ich auch mal Zeit für mich.

Und wenn ich mich zu reflektieren versuche,
  halte ich mich im Kopf nicht aus.
Wenn ich dann vor mir wegrennen will,
  komm ich nicht wirklich aus mir raus.        
 
Und ich will nicht an Morgen denken.
Ich versuch mich abzulenken,
  und dann wird mir klar:

dass morgen längst wieder heute ist
und dass aus lauter Angst vor falschen Entscheidungen
  nichts zu machen
  die falscheste Entscheidung überhaupt ist.
Und ich frage mich, wie ich denken konnte,
  dass mein Leben auf Stand-by ist,
bis ich weiss, wie es genau weitergeht.
Es wird Zeit dafür, dass ich mache,
  was ich jetzt gerade will -
unabhängig davon, was ich glaube, wollen zu müssen.

Was ich will?

Was ich will, ist Jugend auf Hormone kommt raus!
Ich will mitnehmen, was geht, ohne schlechtes Gewissen!
Ich hab grad keinen Bock drauf, vernünftig zu sein,
  und genau das will ich jetzt klassich geniessen!

Ich will stürmen und drängen und frühlingserwachen!
Ich will sommernachtsträumen und Freudentränen lachen!
Ich will gegen den Strom zur Quelle schwimmen!
Ich will mein Weltbild neu malen
  und meinem Standpunkt bestimmen!
Ich will Neues fühlen, sehen, reichen und schmecken!
Ich will Strassenbahnendhaltestellen entdecken!
Ich will in Melodien denken und Poesie atmen!
Ich will aus meiner Komfortzone raus
  Richtung Mutzone starten!
Ich will sein und nicht sein,
  und das auch noch glücklich!
Ich will wagen zu wissen, ich WILL SEIN, also bin ich!

Jetzt geh ich mir nicht mehr so schnell aus dem Kopf,
ich lauf nicht mehr so weit, sondern bleibe bei mir.    
Und so steigen all meine Chancen rasant,
  dass ich mich finde, wenn ich mich verlier.

Und ich habe euch jetzt allen sehr oft gesagt,
  dass ich nicht weiss, was ich werden will,
wenn ihr mich gefragt habt.
Und niemand fragt mehr, was ich werden will.
Ich habe also alle Zeit.
Und wer weiss schon sicher, wer er ist?
Ich denke, ich bin bald so weit.

Und Kinder, wie die Zeit vergeht,
  jetzt bin ich nicht mehr ganz so klein.
Aber Erwachsenwerden heisst ja nicht,
  dass ich aufhören muss, ein Kind zu sein.          


Autor
Julia Engelmann wurde 1992 in Deutschland geboren und ist Schauspielerin und Poetry-Slamerin.

Entstehungszeit
Der Poetry-Slam "Erwachsenwerden" wurde 2014 geschrieben.

Grafische Darstellung   
Dieser Text besteht aus 23 Strophen, die insgesamt 123 Verse enthalten
In der ersten und zweiten Strophe lässt sich jeweils nur einen Endreim erkennen. (Strophe 1, Vers 2 und Vers 4 "Zeit" - "bereit").
In den Strophen vier, acht und zwölf kommen jeweils Binnenreime vor. Beispielsweise Vers 10 in der Strophe vier ("Rucksack tragen, Mama fragen").
In diesem Poetry-Slam gibt es aber auch reimlose Strophen, wie beispielsweise die Strophen sieben, neun oder elf. 
In der Strophe 19 lässt sich einen unreinen Reim erkennen (Vers  2 und Vers 4 "Gewissen" - "geniessen"). 
Da jede Strophe unterschiedlich aufgebaut ist, lässt sich aber kein klares Reimschema erkennen. 

Metrum
Es ist in diesem Poetry-Slam kein klares Metrum erkennbar, es hat also keinen klaren Rhythmus.

Bildlichkeit 
Die Strophe acht enthält ein Vergleich, und zwar im Vers eins und zwei (dann greift das nämlich alles wie grosse ölige Zahnräder ineinander).
Julia Engelmann meint damit, dass im Erwachsenenleben alles so zusammenpasst und ineinandergreift, wie dies bei öligen Zahnrädern der Fall ist. Sie will vermutlich sagen, dass wenn man erwachsen ist, vieles sehr schnell nacheinander passiert und dass der nächste Schritt schon vorprogrammiert ist, wie bei einem Zahnrad, wo ein Zacken auf den anderen folgt.

In der Strophe acht erkennt man im Vers zwölf eine Metapher (sind die fetten Jahre schon vorbei!) Die fetten Jahre, ist die Zeit, wenn man jung und frei ist, wenn man noch keine Verpflichtungen hat. Man hat Zeit, die man nutzt um etwas zu erleben, um jung zu sein.

Eine Personifikation bringt in Strophe 14, Vers drei hervor. "Ich wünschte, sie würden mal vor mir einschlafen", wobei mit "sie" die Gedanken gemeint sind. Lebewesen können einschlafen, Gedanken jedoch nicht, weswegen dieser Vers eine Personifikation ist. 

Strophe 15 enthält im Vers drei eine Metapher (Wenn ich dann vor mir wegrennen will). Man kann nicht vor seinem Charakter und seiner Person wegrennen. Es steht eher dafür, dass man sich neu erfinden will oder jemanden anders sein möchte.

Eine Metapher finden wir in der 17. Strophe, im ersten Vers (dass morgen längst wieder heute ist). Es wird damit gesagt, dass die Zeit sehr schnell vergeht, und sie den Tag nicht wirklich geniessen kann, da es schnell wieder morgen ist.

Quelle
Engelmann, Julia
Eines Tages, Baby, 8. Auflage, München 2014, S. 18-23. 
Wikipedia,
https://de.wikipedia.org/wiki/Julia_Engelmann, 16.4.2017, 15.54 Uhr. 

1 Kommentar:

  1. Hallo Chantal!
    Dein Blog wirkt schon auf den ersten Blick sehr eindrücklich auf mich. Die Bäume im Hintergrund und das dunkle Grün finde ich sehr passend zum Thema "Abschied".
    Die Textwahl spricht mich auch besonders an. Ich merke sehr gut, wie du dir genau überlegt hast, welche Texte du nun bearbeiten möchtest. Du weisst genau, auf welche Arten das Wort "Abschied" zu verstehen ist und widerlegst dies sehr gut in deiner Wahl (z.B. Abschied von der Kindheit, Tod, Abschied von einem Ort).
    Denk an die Kategorie, die wir selbst auswählen müssen denn es wäre Schade wenn du deswegen Punkte verlierst.
    Zusätzlich würde ich dir empfehlen, den zweit Titel (Hier werden Gedichte, Poetry Slams, und Songs rund um den Abschied bearbeitet) nicht in hellgrün darzustellen. Ich finde es zu hell und schwierig zu lesen.
    Jedoch finde ich deinen Blog als Ganzes bisher sehr gelungen!
    - Vivienne

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